
Über Apfelernten und Hirschgeweihe in Midsomer Abbas und Midsomer Herne
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(Achtung: Enthält Spoiler für Episode: 14×06: Das Biest muss sterben)
This article is also available in English.
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Auf einem bunt geschmückten Dorfplatz findet ein sehr gut besuchtes, fröhliches Fest statt. Es gibt Stände und reichlich Alkohol zu trinken. Wir sind auf dem Midsomer Abbas May Fayre, das von den Bewohnern aus Midsomer Abbas und Midsomer Herne gemeinsam gefeiert wird – immer am ersten Mai. Malmsey-Wein wird in einer süßen Version (= der bekannte süße Madeira-Wein) und in einer herben Version serviert. Nun betritt ein Mann, Reverend Conrad Walker, die hölzerne Plattform, spricht in ein Mikrofon und begrüßt die Menge.
Als die beiden Ratsherren Samuel Quested aus Midsomer Abbas und Will Green aus Midsomer Herne die Bühne betreten, gibt es kräftigen Applaus. Der Reverend verlässt derweil das Podium. Samuel Quested ergreift das Wort und erinnert die Menge an den Frühling 1370, als ein verheerender Frost alle Apfelblüten erfrieren ließ und die Bewohner von Midsomer Abbas vor einer Hungersnot standen. Die Apfelernte war die Haupteinnahmequelle für die meisten Einwohner. Doch Hilfe kam aus dem benachbarten Midsomer Herne (die merkwürdigerweise keine Probleme mit dem Frost zu haben schienen, obwohl sie unweit im Nachbartal wohnen). Sie verschenkten ihre Äpfel und bauten eine Freundschaft zwischen den beiden Dörfern auf.
Das Publikum jubelt, als Samuel Quested Will Green symbolisch einen Korb mit Äpfeln überreicht und der Reverend wieder auf die Bühne kommt und das Mikrofon übernimmt.
Eine Mikro-Hungersnot?
Im Jahr 1370 gab es in England tatsächlich Missernten, gepaart mit einem erneuten Ausbruch der Beulenpestepidemie im Jahr 1369 – zum zweiten Mal in England in den 1360er Jahren – und das während des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich.
Nun, anscheinend war 1370 nicht nur ein Jahr mitten im Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich (1337-1453), sondern auch ein Jahr mit einem noch erstaunlicheren Mikroklima, denn der Frost machte anscheinend im Tal halt. (Beide Dörfer wurden offenbar von der Beulenpestepidemie jenes Jahres verschont. Zumindest wird sie nicht erwähnt).
Der Ernteausfall von 1370 wird jedoch kaum in der Literatur oder sogar in zeitgenössischen Quellen erwähnt. Das ist nicht so überraschend, denn die Beulenpest war wahrscheinlich um ein Vielfaches schlimmer. Außerdem war sie offenbar nicht so verheerend wie die Große Hungersnot der 1310er Jahre, wie die Dantean Anomaly (“Danteanische Anomalie”) auch genannt wird.
Dante Alighieris “Inferno” – ein zeitgenössischer Bericht?

Dantean Anomaly – dieser Begriff wurde von dem Oxforder Geophysiker Neville Brown in seinem 2001 erschienenen Buch History and Climate Change geprägt.
„Dantean“ bezieht sich auf den italienischen Autor Dante Alighieri und sein Werk ‚Inferno‘, das spätestens seit Dan Browns gleichnamigem Buch weltberühmt geworden ist.
In den letzten Jahren seines Lebens erlebte Dante Alighieri die große Hungersnot in Italien, die dort 1310-1312 ihren Höhepunkt erreichte. Zur gleichen Zeit schrieb er sein Werk, für das er noch heute berühmt ist: La Divina Commedia, die göttliche Komödie. Die Forscher sind sich nicht einig, wann genau er mit dem Werk begann, aber es war wahrscheinlich in den 1300er Jahren.
Der erste Teil der Göttlichen Komödie, das bereits erwähnte „Inferno“, enthält Passagen, die wie das Ergebnis seiner überbordenden Fantasie und seines Fatalismus erscheinen, aber wahrscheinlich nichts anderes waren als seine Art, seine realen Erfahrungen zu verarbeiten:
“I am in the third circle, filled with cold, unending, heavy, and accursed rain; its measure and its kind are never changed. Gross hailstones, water gray with filth, and snow come streaking down across the shadowed air; the earth, as it receives that shower, stinks.“ (Inferno: Canto VI)
(“Ich befinde mich im dritten Kreis, der von kaltem, nicht enden wollendem, schwerem und verfluchtem Regen erfüllt ist; sein Maß und seine Art ändern sich nie. Grobe Hagelkörner, schmutziggraues Wasser und Schnee prasseln auf die schattige Luft nieder; die Erde, die diesen Schauer aufnimmt, stinkt.”)
Unwetterereignisse aufgrund des Klimawandels
Diese extremen Wetterbedingungen traten etwa von 1300 bis 1325 auf und waren keineswegs auf England, die Britischen Inseln oder Italien beschränkt. Vielmehr waren insgesamt 30 Millionen Menschen in ganz Nord-, Mittel- und in einigen Fällen auch Südeuropa betroffen.
Vor allem die 1310er Jahre waren eine drastische klimatische Anomalie.
Im Jahrhundert davor führten eine Zunahme der Sonneneinstrahlung und ein Rückgang der vulkanischen Aktivität zu einer Erwärmung und einer wohlhabenden Gesellschaft in ganz Europa mit starkem Bevölkerungswachstum, vielen neuen Siedlungen und technischen Verbesserungen in der Landwirtschaft, die es ermöglichten, die Bevölkerung zu ernähren. Auf dieses Jahrhundert des Fortschritts folgten dann von 1300 bis 1325 Perioden mit teils zu viel und teils zu wenig Regen, die in die Kleine Eiszeit mündeten. Die Dantean Anomaly war also nichts anderes als ein Zeichen für den eklatanten Klimaumschwung – der damals zu einer Eiszeit führte.
Davon können wir heute nur träumen, obwohl sich die Wetterereignisse nicht unterscheiden. Nur können wir nicht erwarten, dass sich die Eskapaden des Klimas wieder beruhigen. Die „Dantean Anomaly Junior Research Group“, ein europaweites Forschungsprojekt, untersucht die Vorgeschichte, die Entwicklung und die Auswirkungen vor 700 Jahren und kann schon jetzt sagen: Die Wetterereignisse der 1290er Jahre und um 2020 sind verdammt ähnlich. Damals wie heute waren es lokal auftretende Wetterereignisse, die sich auch stark unterscheiden konnten. Ein Dominikanermönch aus Colmar im Elsass bemerkte zum Beispiel, dass der Winter 1303/04 in Rom außergewöhnlich kalt war, im Elsass aber viel wärmer als sonst. Ein Jahr zuvor hingegen war der Winter im Elsass zu kalt und in Rom zu warm.
Die Dantean Anomaly in England
Wie war das Wetter in dieser klimatischen Übergangszeit in England? Und gibt es Hinweise auf das lokale Wetter am Drehort?
Die Dreharbeiten fanden in Oxfordshire statt, und zwar in Stanton St. John (Midsomer Herne) und Sydenham (Midsomer Abbas). Leider finden sich in den wenigen Wetteraufzeichnungen, die bis heute erhalten geblieben sind, nur sehr selten Angaben zum Drehort. Daher kann ich weder sagen, ob Sydenham oder Oxfordshire im Allgemeinen von einer schlechten Ernte im Jahr 1370 betroffen war, noch wie es dem Dorf oder der Grafschaft während der Dantean Anomaly erging.
Aber schauen wir uns das Wetter der Jahre in England an. Ich benutze hauptsächlich eine Zusammenstellung von Quellen über das Wetter in England zusammengestellt von Historikerin Katheryn Warner.

Die Konsequenzen: Die Große Hungersnot

Dieser häufige Wechsel von zu heißem und zu trockenem, zu nassem und zu kaltem Wetter führte zu massiven Ernteausfällen, besonders in den Jahren 1314 und 1315. Im Jahr 1315 zerstörten Überschwemmungen ein Drittel oder die Hälfte der Ernte. Eine Hungersnot war unausweichlich. Sogar König Edward musste ohne Lebensmittel auskommen, wenn er nach St. Albans reiste, wie er es schon so oft zuvor getan hatte: Es gab einfach kein Brot. Erst 1317 kehrte die Ernte in England auf ein normales Niveau zurück, aber die Lebensmittelvorräte wurden erst 1322 wieder vollständig aufgefüllt.
In ganz Europa starben in den zwei bis drei Jahrzehnten etwa 5-12% der Menschen. Viele Tiere starben auch an einer hochansteckenden Krankheit namens Muren, die die Tiere unaufhaltsam bis zum Tod schwächte – wahrscheinlich eine Art von Maul- und Klauenseuche. Aber die Menschen konnten nicht einmal die toten Tiere für ihr Essen aufbewahren, denn das Salz war durch die Regenzeit feucht und außerdem sehr teuer.
Die Eltern gaben ihre Kinder weg – nicht, weil sie anderswo eine bessere Überlebenschance hatten, sondern die Eltern hatten nur eine Überlebenschance, wenn sie nicht noch Kinder zu ernähren hatten. Sie brauchten das wenige Essen selbst, um nicht zu verhungern. Das weltberühmte Märchen von Hänsel und Gretel entstand höchstwahrscheinlich während der großen Hungersnot: Die Eltern schicken die Kinder in die Welt hinaus, in der Hoffnung, dass sie nie wieder zurückkommen. Schließlich kommen sie in das Haus einer Frau, die offenbar so ausgehungert ist, dass sie zum Kannibalen geworden ist.
Inflation und Krankheit
Doch nicht nur die Hungersnot bereitete Sorgen, sondern auch die politische und soziale Destabilisierung der Gesellschaft und eine Inflation. Die Aristokratie musste zusehen, wie der Wert ihrer Ländereien zusammenbrach.

Land musste verkauft werden, oft zu stark reduzierten Preisen, und viele andere mussten Kredite aufnehmen, um zu überleben. Einige kleine Klöster mussten schließen, andere verkauften Reliquien an Pilger.
Die Regierung hielt es für eine gute Lösung, Preiskontrollen einzuführen und Lebensmittel aus Südeuropa zu importieren. Nun, die Rationierung und Regulierung der Lebensmittelpreise war eine kleine Verbesserung für die Verbraucher, aber für die Bauern und Bäuerinnen bedeutete es den Ruin, denn ihre Betriebe waren nicht mehr lebensfähig – und sie konnten sich nicht mehr selbst versorgen. Deshalb hob die Regierung die Preiskontrollen ein paar Monate später wieder auf. Das führte zu einer Inflation und einem achtfachen Anstieg der Preise.
War es 1305 „nur“ ein Pockenausbruch in England, folgte auf die immungeschwächte Bevölkerung in ganz Europa die große Pestepidemie, die bis zum 18. Jahrhundert immer wieder lokal auftrat. Wie auch anderswo kostete sie unmittelbar nach der Großen Hungersnot viele Menschen das Leben, weil ihr Immunsystem durch den Hunger geschwächt worden war. In England kostete allein die Pestepidemie von 1349 30 % der Menschenleben und es folgten weitere – allein fünf im 14. Jahrhundert (1360, 1361, 1369, 1375, 1390).
Das päpstliche Edikt, das es nie gab
Erinnert ihr euch noch an die mahnenden Worte, die Reverend Norman Grigor und seine Familie auf dem Midsomer Abbas May Fayre sprechen?
Er bezieht sich auf den Horntanz, einen Beltane-Kult, bei dem konkurrierende Männer mit Hirschgeweihen aufeinander losgehen, um den stärksten, willigsten Gefährten unter sich zu ermitteln. Reverend Walker beruhigt uns jedoch: Dieser Tanz wurde in den 1880er Jahren abgeschwächt und ist nicht mehr als ein Volkstanz. Das sehen wir auch in dieser Folge.
John Barnaby spricht Reverend Conrad Walker später auf diese Zeilen an und Walker sagt, dass sie Teil eines päpstlichen Edikts aus dem Jahr 669 sind, mit dem der Papst versuchte, dem heidnischen Beltane-Kult Einhalt zu gebieten.
Es sollte damals von Papst Vitalian stammen, aber dieses Edikt existiert nicht. Es gab weder ein Edikt im Jahr 669, noch gab es jemals ein Edikt mit diesem Inhalt. Es wurde also nur aus dramaturgischen Gründen für die Episode erfunden. Aber seien wir mal ehrlich: Es könnte sehr wohl existiert haben, denn es gab damals wie auch tausend Jahre später zahlreiche Versuche, die heidnischen Kulte abzuschaffen.
🤓 Noch mehr Inspector Barnaby und Midsomer-Geschichte
Die Chronologie der Grafschaft Midsomer (auch nach Episoden (🇬🇧) sortiert) • Hintergrundinfos zu britischer Geschichte in Inspector Barnaby • Drehorte und ihre Geschichte (🇬🇧)Drehorte und ihre Geschichte (🇬🇧), wird Stück für Stück ergänzt
Literatur
- Bauch, Martin: The “Dantean Anomaly” Project. Tracking Rapid Climate Change in Late Medieval Europe” (27/08/2016). In: Historical Climatology.
- Bauch, Martin/Labbé, Thomas/Engel, Annabell/Seifert/Patric: A prequel to the Dantean Anomaly. The precipitation seesaw and droughts of 1302 to 1307 in Europe. In: Climate of the Past 16 (2020).
- Brown, Neville: History and Climate Change. A Eurocentric Perspective. London/New York 2001.
- Buttery, Neil: The Great Famine (1315-1317). In: Climate in Arts & History.
- Frank, Robert Worth: Agriculture in the Middle Ages. Philadelphia 1995.
- NN: 10 Things to Know About the Great Famine. In: Medievalists.net.
- NN: The Great Famine 1315-1317. In: British Food. A History (09/09/2020).
- Pribyl, Kathleen: The Climate of Late Medieval England. Reconstruction and Impacts. Lecture at the Town Close Auditorium, Norwich Castle Museum, 2 November 2013. Based on: Kathleen Pritbyl, Rihard C. Cordes, Christian Pfister: Reconstructing medieval April-July mean temperatures in East Anglia, 1256-1431. In: Climatic Change 113 (2012). S. 393-412.
- Sharp, Buchanan: Royal paternalism and the moral economy in the reign of Edward III. The response to the Great Famine. In: Economic History Review 66 (2013), S. 628-647.
- Storey, R. L.: England. Allgemeine und politische Geschichte. Das Koenigtum im Konflikt mit Adelsgruppierungen. Der Hundertjaehrige Krieg. In: Lexikon des Mittelalters 3. Darmstadt 2009. Col. 1946-1958, here col. 1951.
- Warner, Katheryn: And Your Weather Forecast For The Early Fourteenth Century Is… In: Edward II (10/09/2009).
Ich möchte darauf hinweisen, dass dies eine inoffizielle Fanseite ist. Ich stehe in keiner Verbindung zu Bentley Productions, ITV oder den Schauspieler*innen.
Zuerst veröffentlicht auf MidsomerMurdersHistory.org am 2. März 2025.

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